Als der Winter noch ein Winter war ...

Eine Schlittengeschichte von Uwe Trier

Früher gab es eine Jahreszeit, die wir Bretzenheimer „Winter“ nannten. Dieser Winter - in dieser Geschichte geht es um die Jahre 1966 bis 1968 - begann etwa Mitte November und dauerte bis circa Mitte Februar. Das Besondere an der Jahreszeit war, dass es verhältnismäßig viele Tage gab, an denen die Landschaft und auch der Ort mit Schnee bedeckt waren. 

Für uns Kinder änderte sich der Tagesablauf schlagartig. Schule fertig, schnell nach Hause, essen, Hausaufgaben machen, raus auf die Rodelbahn. So einfach war das allerdings nicht. Man musste seiner Mutter oder Oma erklären, warum die Menge der Hausaufgaben sich drastisch verringert hatte. War man dann endlich fertig und wollte verschwinden, wurde noch die gebetsartige Anweisung erteilt, insbesondere von der Oma.

„Bub, setz immä die Mütz uff. Unn verlier mä die Handschuh nett, ziehse immä an, sunnsd kriesde kalde Fingä unn die könne abfriern.“ 

Erklärung für Uneingeweihte: Mütze - handgestrickte braune Pudelmütze, die irgendwie nie richtig passte, egal wie alt du warst. Handschuhe - ebenfalls selbst gestrickt aus dunkelbrauner Wolle, leider für Schneeballschlachten ungeeignet. Der Schneeball blieb am Handschuh hängen, wenn du dein Geschoss abfeuern wolltest und weg war der Handschuh. Du bist also ungeschützt auf deine Gegner zu gerannt, um deinen blöden Handschuh wieder zu bekommen. 

Zu guter Letzt wurde von der Oma die Heimkehrzeit festgelegt. Da ja die allerwenigsten eine Uhr hatten, mussten optische und akustische Hilfsmittel benutzt werden. Diese Angaben ließen je nach Formulierung und Interpretation einen weiten Spielraum.

Eine Variante war: „Wenn di Laderne angehe, bisd du dehäm.“ Unmöglich zu schaffen, weil du ja vorher nicht wissen konntest, wann die Laternen angehen. 

Zweite Variante: „Wenn die Laderne angehe, gehsd du häm.“ Auch nicht so einfach, aber schon besser machbar oder entschuldbar, wenn der Zeitpunkt nicht eingehalten werden konnte. Weil - das hatten wir Kinder herausgefunden - die Gaslaternen sich je nach Straßenzug zu unterschiedlichen Uhrzeiten entzündeten.

Dann gab es auch noch die Variante mit der Kirchturmuhr von St. Georg. „Wenn die Uhr fünf schläschd, machst de dich uff de Wesch und kimmst häm.“ Diese Anordnung konnte befolgt werden, im Gegensatz zu dieser Anweisung: „Wenn die Kerschturmuhr fünf schläschd, bisde de dahäm.“

Egal - auf jeden Fall Holzschlitten nehmen und ab zum Schlittenfahren. Wir gingen nicht rodeln – nein! Wir gingen Schlitten fahren.

Für mich gab es drei erreichbare Schlittenbahnen. Die am weitesten entfernte war der Rodelberg an der Berliner Siedlung, Richtung Bretzenheimer Ziegelei. Langer Fußweg bis dahin, langer steiler Berg, dafür die längste Abfahrt.

Nummer zwei in der Entfernungsskala - der Fußweg von den Römersteinen runter nach Zahlbach. Für mich noch angenehme Fußwegzeit. Relativ lange Abfahrt, auf der man richtig tolle Geschwindigkeiten erreichen konnte, mit einer langen Auslaufbahn, aber sehr eng. Wenn man mit dem Schlitten wieder zu den Römersteinen hinaufwollte, kam man nur mit Mühe und Not an denen vorbei, die gerade runter sausten. Natürlich nutzten einige ortsbekannte Rüpel diese Situation aus. Sie rasten auf die Hochlaufenden zu und griffen sich deren Schlitten, um sie mit ins Tal zu nehmen. Da musstest du wieder zurücklaufen und deinen Schlitten holen.

Die am nächsten gelegene war die Bahn von der Lanzelhohl zur Regnerschen Mühle. Und den Fußweg dorthin hatten wir ruckzuck präpariert. Schnee vom Rand des Weges sammeln und auf den Weg kippen. Holzschlitten draufstellen und Schnee feststampfen. Schon war der „Zubringer“ zur Rodelbahn startklar. Allerdings beschwerten sich immer wieder Erwachsene, weil sie den Weg nicht mehr so ohne Weiteres runtergehen konnten. Unverständlich für uns Kinder.

In der Regel fanden sich an der Bahn in der Lanzelhohl bei Rodelwetter zehn bis fünfzehn Kinder mit ihren Schlitten ein. Neben modernen lenkbaren Plastikschlitten waren auch Holzschlitten, meistens noch aus Opas Zeiten, im Einsatz.

Die Holzschlitten gab es in drei Varianten. Einsitzer: geeignet für eine Person, nur im Sitzen, im Liegen nicht zu verwenden. Zweisitzer: idealer Schlitten, um alleine im Liegen zu fahren. Dreisitzer: schwer und ungelenk, im Bobverband nur als letzter Schlitten zu gebrauchen.

Um einen Schlittenverband, kurz Bob genannt, zu bilden, war der Zweisitzer ideal. Man lag bäuchlings auf dem Schlitten und hängte seine Füße in den Schlitten hinter sich ein. Meistens geschah das Einhängen von oben, weil da eine Stange quer angebracht war, um das Zugseil zu befestigen. Auf diese Art und Weise konnten beliebig viele Schlitten angehängt werden. Die Länge des Bobs war allerdings begrenzt, damit die Verbindung überhaupt in Bewegung kam. Bei einem zu langen Bob war der erste Schlitten schon fast in der Hälfte der Bahn, während die letzten Schlitten sich noch auf der Geraden oberhalb des Hanges befanden. Die Verbindung war also schwer in Fahrt zu bringen.

Ein weiteres Risko stellte die damals noch kaum befahrbare Bahnstraße dar. Sie endete nach der Regnerschen Mühle als Sackgasse. Daneben verliefen die Straßenbahnschienen und dann kam „die Bach“. Natürlich versuchten die Fahrer der letzten Schlitten im Bob, den Verband auf eine solche Geschwindigkeit zu bringen, dass der erste Fahrer des ersten Schlittens, der Lenker, in der Bach landete. Erfahrene Lenker bogen spätestens auf der Bahnstraße nach rechts ab und brachten den Schlittenverband zum Umkippen. 

Aber wehe, ein Neuling stieß hinzu. Dem wurde erklärt, dass man ihn toll fand und er das Zeug zum besten Lenker hätte. Also könnte er den Tross anführen. Wer ein bisschen clever war, hatte spätesten nach der ersten Fahrt, die auf den Schienen endete, erkannt, wie der Hase lief. Dennoch gab es jeden Winter mindestens einen Lenker, der mit durchnässten und übel riechenden Klamotten nach Hause musste.

Als die Bach kanalisiert wurde, war dieser Spaß war vorbei.

©Verein für Heimatgeschichte Bretzenheim und Zahlbach e.V.  Alle Rechte vorbehalten.

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